Gegen das Vergessen

Der siebte Jahrgang gedenkt – stellvertretend für die ganze Schule – jedes Jahr am 9. November der Pogrome von 1938. Auch in diesem Jahr stellten die Schülerinnen und Schüler wieder ein eindrucksvolles Bühnenprogramm zusammen, das die Zuschauer bewegte. An der Gedenkstele vor dem Rasthaus eröffnet Bürgermeisterin Anne Horst traditionell die Gedenkfeier, bei der unsere Schülerinnen und Schüler die Namen der Opfer in einem würdigen Rahmen verlesen. Schweigend begab man sich im Anschluss ins Forum unserer Schule, wo in szenischem Spiel, im Tanz, im Schwarzlichttheater, in einer biographische Lesung der Opfer gedacht wurde. Die Dramaturgie des Abends führte von der Vergangenheit in die oft vorurteilsgeladene Gegenwart und warnte eindringlich vor der Wiederholung der unsäglichen Taten und Geschehnisse. Schulleiter Stephan Steinhoff appellierte im Wortlaut eindringlich an seine Zuhörer:

„Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, liebe Eltern und Angehörige unserer Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem aber liebe Schülerinnen und Schüler des 7. Jahrgangs unserer Schule, liebe Gäste aus Gemeinde und Umkreis!

Deutschland ist ein Land des Gedenkens. In unseren Jahreskalendern finden sich viele offizielle Gedenktage, so wie der 9. November einer ist. Manche sind sogar Feiertage, wie der 3. Oktober, der Tag der deutschen Einheit. Andere haben, wie der 9. November, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands zu tun, wie der 27. Januar, der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Der 27. Januar 1945 war der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und der beiden anderen Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs.

Deutschland ist ein Land mit einer ausgeprägten Kultur des Erinnerns. An den Gedenktagen erinnern Menschen in hohen Ämtern und mit politischer Verantwortung in ihren Reden und Ansprachen an Geschehenes und Vergangenes. Die Menschen, die ihren Worten lauschen, versammeln sich an historisch bedeutsamen Orten. Minuten des Schweigens, getragene Musik und die Niederlegung von Kränzen und Gestecken gehören zu diesen Anlässen dazu. Am Volkstrauertag, an dem in jedem Jahr am zweiten Sonntag vor dem Ersten Advent der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird, werden Fahnen und Flaggen auf Halbmast gesetzt.

Gedenken und Erinnern, so wird es in den Reden an diesen Tagen immer wieder beschworen, sollen dazu dienen, die Opfer der Geschichte dem Vergessen zu entreißen und sie sollen die gegenwärtigen Generationen zur Wachsamkeit mahnen, auf dass sich das Schreckliche nicht erneut ereigne.

Es ist an der Zeit mit klaren und eindeutigen Worten zu sagen, dass das nicht ausreicht. Bei weitem nicht ausreicht. Gedenken und Erinnern sind gut, wichtig und richtig. Aber sie bleiben bedeutungs- und wirkungslos ohne aktiven Widerstand, ohne klare Ansagen, ohne die ausdrückliche Benennung derer, die eben genau das wieder wollen, wovor wir erinnernd und gedenkend warnen.

Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland ist eine Geschichte der Versäumnisse, des Vertuschens und des Verschweigens. Wie lange hat es gedauert, bis die Verantwortlichen vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen wurden? Wie viele Täterinnen und Täter konnten sich in Sicherheit bringen oder haben jahrzehntelang, im Ausland oder sogar mitten unter uns in der ruhigen Gewissheit leben können, von jeder Strafverfolgung verschont zu bleiben? Welche Antworten bekam die Jugend der 60er Jahre, die nach der politischen Vergangenheit von akademisch Lehrenden, politisch Verantwortlichen und Recht sprechenden Persönlichkeiten fragte?

Es rächt sich bis heute, dass sich die Deutschen ihrer Vergangenheit nicht schonungs- und vorbehaltlos gestellt und aus ihr gelernt haben. Das zeigt sich auch durch die Ereignisse, derer wir erst vor wenigen Tagen, am 4. November, gedacht haben. Am 4. November 2011 enttarnte sich die extrem rechte Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, die so genannte NSU, die mindestens zehn Morde, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge in Deutschland begangen hatte, ohne dass die Polizei ihr auf die Spur kam oder auch nur annahm, es handele sich um rechten Terror. Auch vor dem NSU gab es extreme politische Gewalt von rechts in Deutschland, erinnert sei an Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen, um nur einige Ortsnamen zu nennen, mit denen sich bis heute Schreckliches verbindet. Und aus der jüngsten Vergangenheit lassen sich der Terroranschlag auf die Synagoge von Halle, die nächtliche Amokfahrt von Hanau und der Mord an Walter Lübcke, dem Kasseler Regierungspräsidenten, nennen.

Terroristische Gewalttaten aber sind nur die Spitze des Eisbergs. Noch sichtbar sind Pegida-Aufmärsche oder Demonstrationen anderer rechter Gruppen in der Öffentlichkeit. Und was haben wir alles kennenlernen dürfen: Identitäre, Reichsbürger, Combat 18, um nur einige zu nennen. Nicht sichtbar ist das Netzwerk der so genannten Neuen Rechten, das über vielfältige Kanäle Einfluss zu gewinnen versucht und diesen auch mehr und mehr gewinnen kann. Nur punktuell sichtbar werden rechtsextreme Gruppierungen in Bundeswehr und Polizei.

Sichtbar ist auch eine Partei, deren Vertreterinnen und Vertreter in vielen Parlamenten und Räten sitzen. Unter der Maske der Bürgerlichkeit vertritt sie eindeutig rechtsextreme Positionen, so dass es nicht wundernimmt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz diese Partei als Prüffall und zumindest vorläufig auch als Verdachtsfall eingestuft hat – das endgültige Urteil steht noch aus. Unabhängig von diesem verfassungsrechtlichen Streit sei daran erinnert, dass der thüringische AfD-Chef Björn Höcke als Faschist bezeichnet werden darf, so hat es das Verwaltungsgericht Meiningen entschieden.

Diese Partei beruft sich darauf, demokratisch legitimiert zu sein, weil sie schließlich gewählt worden sei. Dieser Argumentation lässt sich leicht begegnen: Wenn das zur demokratischen Legitimation ausreichen soll, dann war auch die NSDAP demokratisch legitimiert. Und es sei daran erinnert, dass national-konservative Kreise ihr zur Macht verholfen haben, die sie dann nicht mehr abgegeben hat – mit den Folgen, derer wir unter anderem heute gedenken. Und es sei ganz klar und deutlich gesagt, dass Faschismus keine von der Meinungsfreiheit des Grundgesetztes geschützte Haltung ist, ganz im Gegenteil. Den Titel des bekannten Dramas von Max Frisch aufgreifend fordere ich die Biedermänner und -frauen, die es in dieser Partei durchaus geben mag, eindringlich auf, die Brandstifter aus ihren Reihen auszuschließen. Tun sie es nicht, müssen sie sich die Folgen ihres Handelns ebenso anrechnen lassen wie die Täter selbst!

Wir leben in einer offenen, vielfältigen, toleranten, werteorientierten und freiheitlichen Gesellschaft. Deren Basis ist ein Grundgesetz, das erkennbar auf die historische Verantwortung Deutschlands reagiert hat und uns zur Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens in republikanischem Geist geworden ist.

Es erfüllt mich mit großer Besorgnis und Unruhe, dass immer mehr die Rede davon ist, judenfeindliches, fremdenfeindliches, rassistisches und völkisches Gedankengut sei in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Es erfüllt mich mit großer Besorgnis und Unruhe, dass noch immer die argumentative und sachliche Auseinandersetzung mit diesen Positionen als probates Mittel gepriesen wird, diesen Anschauungen zu begegnen. Nein, wir müssen ihnen offen und mutig entgegengetreten und müssen aussprechen, wohin das führen wird: Zu nichts anderem als dem, was wir in Deutschland zwischen 1933 und 1945 schon einmal erleben mussten – Diktatur, Unterdrückung, Gleichschaltung, Terror, Verfolgung, Mord und Gewalt!

Was kann uns Hoffnung geben? Der bekannte politische Philosoph Ottfried Höffe hat es vor kurzem als Antwort auf die Frage, was unsere Gesellschaft noch zusammenhalte, so formuliert:

„Einen tieferen Zusammenhalt gewinnt [unsere Gesellschaft] durch die konstitutionelle Demokratie und die Bürgergesellschaft, dabei durch deren Medium, ihre Sprache […], ferner durch das Gesundheits-, das Schul- und Hochschulwesen, durch Natur- und Geisteswissenschaften, Medizin und Technik, durch Musik, Literatur und Kunst. […] Gesellschaftliche Toleranz hat sich durchgesetzt. Vielerorts herrscht eine interkulturelle Neugier vor, man beruft sich mehrheitlich statt auf fremde Autoritäten auf die allen Menschen gemeinsame Vernunft.“

Es bleibt zu hoffen, dass diese Worte tatsächlich unser Land beschreiben. Und wenn wir daran zweifeln sollten, ist es um so dringlicher dafür einzutreten, dass sie sich bewahrheiten. Schule ist ein wesentlicher Ort, an dem das gelernt und eingeübt werden kann. Demokratisierung ist eine der sechs zentralen Werthaltungen unseres Schulprogramms. Der heutige Tag, unser Zusammenkommen an der Stele, hier im Forum unserer Schule und später auf dem jüdischen Friedhof sind sichtbare Zeichen, für was wir einstehen und eintreten.

Den Schülerinnen und Schülern des 7. Jahrgangs, ihren Lehrerinnen und Lehrern und den Organisatoren im Hintergrund herzlichen Dank und große Anerkennung.

Der Gemeinde Dank für die Kooperation und das gemeinsame Festhalten an dieser lebendigen Tradition.

Allen, die gekommen sind, Achtung und Wertschätzung ihres Mutes und ihrer Haltung in diesen wahrlich befremdlichen Zeiten!

Vielen Dank!“